Geschichte International

Neuer Aufbruch – und Enttäuschung

Am 20. Mai 1858, dem Donnerstag vor Pfingsten, trat in Albury eine Versammlung ganz besonderer Art zusammen. Die Apostel hatten nach 22 Jahren wieder Propheten eingeladen. Sie sollten in ihrer Gegenwart mit der 1836 unterbrochenen prophetischen Auslegung der Heiligen Schrift fortfahren.

Prophetenkonferenz

Kapitel für Kapitel wurde aus den Büchern Esra und Nehemia der Bericht über den Wiederaufbau Jerusalems nach dem Auszug des alten Gottesvolkes aus der babylonischen Gefangenschaft vorgelesen. Dessen prophetische Deutung sollte Aufschluss über die Vollendung der Kirche nach dem Verlassen des geistlichen Babylons – der Kirche im Zustand der Verwirrung – geben.

Von den 12 Aposteln, die 1836 an der prophetischen Bibelauslegung teilgenommen hatten, waren noch acht dabei. Außer Edward Oliver Taplin, dem „Pfeiler“ der Propheten, waren die anderen drei der noch lebenden „Sieben Propheten der allgemeinen Kirche“ eingeladen, zusätzlich aber auch neun weitere Propheten, die schon einmal mit den Aposteln im Dienst der allgemeinen Kirche tätig gewesen waren. Unter ihnen ragte Heinrich Geyer durch seinen Rang als Engelprophet und enger Mitarbeiter der Apostel bei der Rufung aller deutschen Amtsträger hervor.

„Vollendung der Ordnungen“

Die Versammlung in Albury diente 1858 nicht nur dem Zweck, neuen Aufschluss über göttliche Geheimnisse zu erlangen. Es sollten auch Männer gefunden werden, die künftig als „Propheten mit dem Apostel“ dienen konnten. So sollten endlich die spätestens seit 1836 vorgesehenen „Ordnungen“ der Kirche in Form einer umfangreichen Ämterhierarchie für die Gesamtkirche vervollständigt werden. Weissagungen, die auf eine „Vollendung der Ordnungen“ vor der Wiederkunft Christi drängten, gab es seit einigen Jahren, und entsprechende Erwartungen richteten sich besonders auf die Zeit um 1863.

Apostel Cardale erklärte selbst, dass in der Vollendungszeit „die Ordnung für das prophetische Amt in der allgemeinen Kirche, nämlich die Zwölf Propheten, die den Zwölf Aposteln beigesellt sein sollen“, zur Vollendung kommen werde. Man sei also verpflichtet, nach der Vollzahl der Propheten zu streben.

Kommt das große Werk?

Heinrich Geyer hatte die von Carlyle erweckte Hoffnung nicht aufgegeben. Wie Carlyle wartete auch Geyer darauf, dass auf das Werk der Apostel für eine kleine Schar ein großes Werk unter allen Christen folgen würde. Apostel Carlyle hatte dies in seiner Deutung der dreifachen Salbung Davids gelehrt (siehe Artikel 9 dieser Serie). David stand für das Apostelamt, und Geyer weissagte in Marburg im Dezember 1857: „Sein Knecht David begnügt sich nicht mit Juda. Der Herr hat für ihn bestimmt das ganze Israel.“
Bei der Versammlung in Albury beflügelte Geyer anscheinend der Gedanke, dass die Apostel mit ihrer Suche nach zwölf Propheten die „Vollendung der Ordnungen“ einleiten wollten. In der „allgemeinen Kirche“ fehlten gerade jene Ämter, die im ursprünglichen Plan für die Evangelisation und Versiegelung großer Massen vorgesehen waren: Die 60 Evangelisten an die Nationen, die im Engelrang stehend weitere Evangelisten anleiten sollten, und die „Siebzig“, die als „apostolische Delegaten“ die Apostel entlasten sollten. Wenn von zwölf Propheten die Rede war, die den zwölf Aposteln beigeordnet werden sollten, mochte es heißen, dass es endlich auch wieder zwölf Apostel geben sollte.

Die „Siebzig“

Geyers prophetische Deutungen der biblischen Aussagen zeigen, dass er auf ein baldiges Erscheinen der Sechzig und der Siebzig wartete. Er stellte sich vor, dass die Siebzig den Aposteln zur Hilfe gegeben waren, so wie es der alten Lehre entsprach, die in den Siebzig „apostolische Delegaten“ sah, eine Art von Hilfsaposteln, die im Auftrag der Zwölf auch Ordinationen und Versiegelungen durchführten (vgl. Artikel 5 der Serie, UF 03/2013, S. 39). In diesem Sinn rief er den Aposteln zu: „Er kennt die Last, die gelegt ist auf die Schulter der Zwölf. ... Deshalb sammelt Er solche, die mit euch arbeiten. ... Er wird die Siebzig geben.“ Neu war der Begriff „Erzengel“, den Geyer parallel zum Ausdruck „Delegaten“ als Bezeichnung der Siebzig verwendete, „die mit den Zwölf erscheinen“.

Die Deutung der Weissagungen hatten sich die Apostel ausdrücklich vorbehalten. Die Weissagungen der Konferenz von 1858 schienen den Aposteln so brisant, dass sie sich auf eine gemeinsame Deutung einigten und diese den Engeln zustellten, ehe diese noch die Weissagungen selbst erhielten. In dieser Deutung verwiesen sie darauf, dass drei verschiedene Gruppen von Juden nacheinander aus Babylon ausgezogen seien. Sie hätten dann beim Wiederaufbau Jerusalems auch unterschiedliche Arbeiten ausgeführt. Aus ihrem Verständnis des geschichtlichen Ablaufs folgerten sie, dass auch die Vollendung der Kirche in drei Stufen erfolgen würde – und nur die erste würde unter Aposteln stattfinden.

Zunächst waren noch nicht alle Konsequenzen dieser Deutung absehbar, aber schon 1859 folgerte Apostel Woodhouse, dass die Siebzig nicht Helfer der gegenwärtigen Apostel sein würden, sondern deren Nachfolger in einer künftigen Epoche des Werkes Gottes. Diese Deutung vertrat auch Apostel Cardale gegen Ende des Jahres 1860.
Geyer erlebte also, dass seine Weissagungen, mit denen er hoffte, das große Werk unter Aposteln zu beschleunigen, zur Rechtfertigung einer neuen apostellosen Zeit herangezogen wurden. Da die Propheten verpflichtet waren, die Deutung der Weissagungen den Aposteln zu überlassen, hatte er zu schweigen.

Apostellose Zeit vorbereitet

Die Siebzig, jetzt als „Erzengel“ definiert, konnten im Sinne der katholisch-apostolischen Ämterordnung als Erzbischöfe verstanden werden. Es wurde neuerdings gelehrt: So wie im Laufe der Kirchengeschichte auf die Zeit der Apostel eine Kirche unter Bischöfen gefolgt sei, werde eine solche Zeit auch vor der Wiederkunft Christi kommen. Zuvor allerdings würden die Apostel und die von ihnen Versiegelten zum Lamm auf den Berg Zion entrückt (so interpretierten sie Offenbarung 14, 1-5). Anschließend würde für die gesorgt, die nicht an Apostel glauben konnten, wohl aber an das Bischofsamt und liturgisch reichhaltige Gottesdienste. Unter ihnen werde die bisher noch ausgebliebene große Ausgießung des Geistes stattfinden. Auch diese Gruppe würde entrückt und erst danach die Große Trübsal eintreten. In der Phase der Großen Trübsal würden sich die Christen der „großen Schar“ für ihr Bekenntnis zu Christus zu Märtyrern entwickeln (vgl. Offenbarung 7, 9-17).

Geistempfang ohne Apostel

Die neue Lehre war so kompliziert, dass auch ihre Befürworter in Einzelheiten der Auslegung voneinander abwichen. Das vor dem Hintergrund der ursprünglichen Erwartungen Anstößige an ihr war aber vergleichsweise leicht zu begreifen: Hier wurde festgeschrieben, dass die Vollendung der Kirche nicht durch Apostel geschehen sollte. Das ersehnte große Werk sollte erst unter ihren Nachfolgern (den siebzig Erzbischöfen an der Spitze der Christenheit!) stattfinden. Die durch Handauflegung der Apostel Versiegelten würden eine sehr kleine Schar bleiben. Den Geist würden aber Viele empfangen – durch eine „Ausgießung“, für die es keiner Apostel bedurfte. Was unter dieser „Ausgießung“ im Unterschied zur apostolischen Handauflegung genau zu verstehen war, wurde nicht erklärt.

Für die Propheten entstand durch die Änderung der Lehre ein erhebliches Problem: Ging ihre Gehorsamspflicht gegenüber den Aposteln so weit, dass sie ihre Weissagungen, die sie als direkte Offenbarungen Gottes empfanden, nur äußern durften, wenn sie der neuen Lehre vom baldigen Ende des Apostelamtes entsprachen? Aus ihrer Sicht gab Gott selbst die Antwort, denn er ließ sie neue Apostel rufen.

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