Geschichte International

Die Endzeiterwartung des Albury-Kreises

Wie immer im Monat Mai strömten auch 1830 die Mitglieder der religiösen Gesellschaften in London zusammen. Zu ihren Jahrestagungen kamen so viele Menschen, dass die dafür gemietete Halle mit 1.600 Sitzplätzen oft nicht ausreichte. Wer kam, war bereit, größere Geldbeträge zu spenden.

Es gab drei konkurrierende Gesellschaften zur Heidenmission, zwei zum Verteilen von Bibeln, andere zur Verbreitung religiöser Erbauungsschriften, zur Errichtung von Schulen für die Kinder der Armen und vieles mehr. Der Bankier und Landedelmann Henry Drummond engagierte sich besonders in drei Gesellschaften. Eine finanzierte den Druck von Bibeln, die zweite die Verkündigung des Evangeliums unter den Juden. Und die dritte war die so genannte „Festlandsgesellschaft“.

Drummond fordert zum Verlassen von „Babylon“ auf

Die Festlandsgesellschaft bezahlte „Agenten“, die die Menschen auf dem europäischen Festland (vorzugsweise in der Schweiz, in Frankreich und in Deutschland) vom falschen zum wahren Glauben führen sollten. Schon auf einer früheren Jahrestagung (1825) hatte Drummond sich Gedanken über die in der Offenbarung erwähnten „Versiegelten“ gemacht und erklärt, dass die Agenten sie aus dem „geistlichen Babylon“ herausrufen müssten (vgl. Off 18, 4). Unter dem „geistlichen Babylon“ verstand die Festlandsgesellschaft sowohl die Katholische Kirche als auch neuere Richtungen im Protestantismus mit den Anfängen der historisch-kritischen Bibelauslegung. Die Agenten sollten die Bekehrten aber nicht in irgendeine „Sekte“ führen, sondern in die „wahre Kirche“. Wo aber war die „wahre Kirche“? Und wer waren die „Versiegelten“?

Bei den Zusammenkünften im Mai traf Drummond auch auf jene rund 50 Gläubigen aus verschiedenen Kirchen, die seit 1826 an den einwöchigen Konferenzen auf seinem Landsitz in Albury teilnahmen. Durch gemeinsames Bibelstudium wollten sie sich auf die Wiederkunft Christi vorbereiten. In diesem Mai des Jahres 1830 hatten sie ein ganz besonderes Gesprächsthema. Aus Schottland kamen Berichte darüber, dass Gott selbst durch Propheten sprach und dies durch wunderbare Krankenheilungen bestätigte. Das wollten sie zwar in Ruhe besprechen, aber wegen der hohen Bedeutung der Sache nicht erst zur üblichen Zeit im Advent. Deshalb vereinbarten die Männer einen Termin bereits für Juli.

Reicht eine unsichtbare Kirche?

Der „Albury Kreis“ verstand sich als Teil einer größeren Bewegung von Erweckten, die ein Leben nach den Grundsätzen des Evangeliums führen wollten. Deshalb wurden sie als „Evangelikale“ bezeichnet. Sie sahen sich als die wahrhaft Frommen in einer unsichtbaren Kirche vereint. Man gehörte zu ihr, sobald man ein Bekehrungserlebnis gehabt hatte. Dann galt man als „wiedergeboren“ und als „Gotteskind“. Das sollte sich nicht darin erschöpfen, das Verdienst Christi im Glauben zu ergreifen, es sollte sich auch in Taten äußern. Neben dem täglichen Lesen in der Bibel und in Erbauungsschriften sollte man andere bekehren und selbst die Sünde meiden. Ein Leben ganz ohne Sünde galt als ihr Ziel.

Können Menschen das Reich Christi herbeiführen?

Die Evangelikalen glaubten in ihrer Mehrheit, dass die religiösen Gesellschaften mit ihren Aktivitäten im Begriff waren, das Reich Christi nach und nach aufzurichten. Die Missionsgesellschaften würden bald alle Heiden bekehren, andere Gesellschaften würden die Christen zu moralisch einwandfreiem Handeln anleiten, und so würden die Reiche dieser Welt nach und nach zum Reich Christi werden. Am Ende dieses Reiches würde dann Christus zum Gericht erscheinen.

James Haldane Stewart, ein Geistlicher, der später auch zum Albury-Kreis gehörte, hatte die Frommen seit 1820 darauf verwiesen, dass menschliche Mittel nicht ausreichten, um die Menschheit zu bekehren. Deshalb forderte er sie auf, um eine besondere „Ausgießung des Geistes“ zu bitten. So werde Gott das Wirken der religiösen Gesellschaften noch wirksamer machen.

Christus kommt bald wieder!

Die Mitglieder des Albury-Kreises folgten dem Aufruf zu solchen Gebeten. Aber sie gingen einen Schritt weiter. Menschliche Mittel würden wirkungslos bleiben, und nur eine Minderheit würde sich vom Geist Gottes leiten lassen. Deshalb werde Christus bald zum Gericht erscheinen, um danach sein Reich aufzurichten.

Der Geist des Unglaubens hatte sich, so glaubten sie, in der Französischen Revolution gezeigt, als Kirchen geschlossen und Gläubige hingerichtet wurden. Napoleon hätte auch Großbritannien diesem Regiment des Unglaubens unterwerfen wollen. Gott aber habe diese „versiegelte Nation“ für eine besondere Rolle in seinem Plan bewahrt.

Wie viele Ausleger der Offenbarung seit der Reformation hielten auch die Teilnehmer an den Albury-Konferenzen die Offenbarung des Johannes für eine verschlüsselte Beschreibung der Welt- und Kirchengeschichte. Deren Ende glaubten sie errechnen zu können. Die 1260 Tage, an denen sich die Sonnenfrau (nach Off 12) in der Wüste aufhielt, wurden als 1260 Jahre gedeutet, in denen die wahre Kirche bildlich gesprochen in der Wüste sei. Wie die Reformatoren deuteten sie den Papst als Antichrist, der in dieser Zeit herrsche. Sein Fall werde nicht durch die Gläubigen kommen, sondern durch irdische Mächte. Das Jahr 1793 galt ihnen als Schlüsseldatum. Damals war der französische König Ludwig XVI. im Zuge der Revolution hingerichtet worden. Eine neue antichristliche Macht, der moderne Unglaube, habe damals seine Herrschaft begonnen. In Anlehnung an Daniel 7 rechneten einige von ihnen 70 Jahre weiter und hofften, dass 1863 der Auszug aus dem geistlichen Babylon vollendet und das neue Jerusalem erbaut sein würde.

Wann aber würde man „die Stimme des Bräutigams und der Braut“ (vgl. Jer 33,11 und Off 22,17) wieder hören? Oder hatte gar der Bräutigam seine Stimme schon durch einfache Menschen in Schottland hörbar gemacht?

Geistesgaben als vorlaufende Zeichen von Christi Wiederkunft

Im April 1830 waren in Port Glasgow Dinge geschehen, über die man bei den Londoner Versammlungen im Mai erste Gerüchte hörte: Die todkranke Margaret Macdonald hatte Weissagungen ausgesprochen, vor der Wiederkunft Christi werde der Heilige Geist neu ausgegossen. Einige Tage später hatte ihr Bruder James Macdonald die Kraft empfangen, sie durch ein Befehlswort zu heilen.

Auf der anderen Seite des Flusses Clyde, in Fernicarry am Gareloch, schien Mary Campbell dem Tode durch Tuberkulose nahe. Sie hatte sich einige Zeit zuvor getrieben gefühlt, in einer unbekannten Sprache zu sprechen. Daraus schöpfte sie Hoffnung, dass sie nicht sterben würde, sondern dass Gott sie zu einem Volk schicken werde, dem sie in dieser Sprache das Evangelium verkünden könnte. Ihr übersandte James Macdonald einen Brief mit dem Befehl, vom Krankenbett aufzustehen. Dieser traf sie (wie sie ihrem Seelsorger berichtete) „mit einer Macht, die mit Worten nicht zu beschreiben ist“. Sie stand auf, sprang umher, lobte Gott und fuhr am nächsten Morgen mit dem Schaufelraddampfer nach Port Glasgow, um sich ihrem Wohltäter zu zeigen.

Das Ende des Albury-Kreises im Streit um die Geistesgaben

Der Albury-Kreis diskutierte Berichte über diese Ereignisse. Drummond und einige andere sahen durch Weissagung bestätigt, was sie durch ihr Schriftstudium erschlossen hatten. Andere hielten die Geschehnisse für Lügenwunder, mit denen der Teufel die Geister verwirren wollte.

An der Deutung der Geistesgaben zerbrach der Albury-Kreis. Die Zusammenkünfte wurden eingestellt. Henry Drummond ließ ein Nebengebäude seines Herrenhauses zu einer provisorischen Kapelle umbauen. Dort betete er mit einigen Gläubigen um weitere Geistesgaben, während der Dorfgeistliche nebenan in der alten Dorfkirche dagegen predigte. Derselbe Geistliche, Hugh McNeile, hatte in den Albury-Konferenzen für eine erneute Ausgießung des Geistes gebetet. Wollte er nun behaupten, so fragte Drummond, dass Gott seine Gebete nicht erhört habe?

Von: Manfred Henke

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