10.06.2021

„Stolperstein-Weg“ in Stuttgart

Alle Meldungen anzeigen

Am Vormittag des 9. Juni 2021 gingen einige Stuttgarter Bürger, überwiegend neuapostolische Christen aus Stuttgart, den an diesem Mittwoch neu gelegten „Stolperstein-Weg“ durch die Stuttgarter Innenstadt. Als Vertreter der Kirche waren Apostel Jürgen Loy, Bischof Bernd Bornhäusser und Apostel im Ruhestand Volker Kühnle dabei.

  • Stolperstein-Verlegung vor Haus Silberburgstraße 88
    < Stolperstein-Verlegung vor Haus Silberburgstraße 88 >
  • Stolperstein für Hans Karl Perlen ist bereit
    < Stolperstein für Hans Karl Perlen ist bereit >
  • Stolperstein für Klara Hübner
    < Stolperstein für Klara Hübner >
  • Letztes Foto von Klara Hübner nach der Zwangseinweisung in die Heilanstalt Zwiefalten
    < Letztes Foto von Klara Hübner nach der Zwangseinweisung in die Heilanstalt Zwiefalten >
  • Der Künstler verlegt den Stolperstein für Klara Hübner
    < Der Künstler verlegt den Stolperstein für Klara Hübner >
  • Gedenken an Klara Hübner in der Calwerstraße 7b
    < Gedenken an Klara Hübner in der Calwerstraße 7b >
  • Die Stolpersteine werden gesetzt
    < Die Stolpersteine werden gesetzt >
  • Einblick in das Schicksal von Hans Karl Perlen und von Fanny Perlen
    < Einblick in das Schicksal von Hans Karl Perlen und von Fanny Perlen >
  • Zum Gedenken an Hans Karl Perlen
    < Zum Gedenken an Hans Karl Perlen >
  • "Gott ist die Liebe" – musikalischer Vortrag an der 3. Station
    < "Gott ist die Liebe" – musikalischer Vortrag an der 3. Station >
  • Apostel Jürgen Loy bei der Ansprache in der Heusteigstraße
    < Apostel Jürgen Loy bei der Ansprache in der Heusteigstraße >
  • Zum Gedenken an Josefine und Hermann Glück
    < Zum Gedenken an Josefine und Hermann Glück >
  • Stolpersteine für Mutter und Sohn Glück vor Haus Heusteigstraße 78
    < Stolpersteine für Mutter und Sohn Glück vor Haus Heusteigstraße 78 >

An drei Stationen des „Stolperstein-Wegs“ hielt die Gruppe ganz bewusst inne. Die drei Stationen galten dem Gedenken an neuapostolische Glaubensgeschwister in Stuttgart, die in der Zeit der NS-Diktatur ermordet wurden.

„Es ist uns ein tiefes Bedürfnis, unserer Glaubensgeschwister und deren Angehörigen zu gedenken, an ihr Schicksal zu erinnern und ihnen damit auch ein Stück ihrer Würde zurückzugeben“, sagte Apostel Loy in seiner Ansprache bei der berührenden Gedenkfeier, die jeweils an den drei Stationen stattfand und von der Gebietskirche verantwortet wurde.

„Stolpersteine“ – Mahnmal gegen das Vergessen

Sieben neue „Stolpersteine“ verlegte Künstler Gunter Demnig am 9. Juni 2021 in Stuttgart. Europaweit hat er seit Beginn des Projekts im Jahr 1992 rund 90.000 „Stolpersteine“ zum ehrenden Erinnern an Menschen verlegt, die in der NS-Diktatur entrechtet und verfolgt, deportiert und ermordet oder in den Suizid getrieben wurden.

Die „Stolpersteine“ sind Betonwürfel mit einer beschrifteten Messingplatte an der Oberseite, die Namen, Geburtsjahr und Todesjahr des NS-Opfers und evtl. weitere Angaben enthält. Die „Stolpersteine“ werden im Regelfall vor dem letzten frei gewählten Wohnhaus des Ermordeten auffällig in den Wegbelag eingefügt. So sind diese Gedenksteine ein Mahnmal gegen das Vergessen des furchtbaren Leides, das Menschen in der NS-Diktatur erlitten, die zum Beispiel jüdischer Herkunft waren oder eine Behinderung hatten.

„Stolperstein“ im Gedenken an Hans Karl Perlen

Vor dem Haus in der Silberburgstraße 88, in dem sich heute eine Gaststätte befindet, setzte Gunter Demnig den zweiten „Stolperstein“ am Mittwochvormittag. Hier lebte bis Juni 1938 Hans Karl Perlen. Er wurde am 5. April 1891 in Stuttgart geboren und stammte aus einer angesehenen jüdischen Familie aus Esslingen. 1936 musste er seinen Beruf aufgrund seiner jüdischen Herkunft aufgeben. Auch seine Ehefrau Fanny, geborene Hammel, war jüdischer Herkunft, jedoch neuapostolisch. Die beiden hatten 1922 geheiratet und einen Sohn, doch wurde die Ehe 1937 geschieden. (Der Sohn, vom Vater 1937 in die Schweiz gebracht, konnte 1951 nach Amerika emigrieren.)

Hans Karl Perlen ging eine neue Beziehung ein. Seine Partnerin war nach der nationalsozialistischen „Rassentheorie“ eine „Arierin“. Deshalb wurde Hans Karl Perlen 1938 zu über einem Jahr Zuchthaus wegen „Rassenschande“ verurteilt. Bis zum Krieg war Hans Karl Perlen recht vermögend gewesen, doch sein gesamter Besitz wurde von der Gestapo beschlagnahmt. Hans Karl Perlen wurde zuerst nach Auschwitz und dann in das Konzentrationslager Warschau deportiert, wo er 1944 an Flecktyphus verstarb.

Fanny Perlen, seine geschiedene Frau, wurde 1941 nach Riga deportiert und dort ermordet. „2018 durfte ich unseren Stammapostel nach Riga begleiten“, berichtete Apostel Loy. „In Riga gab es just an diesem Wochenende ein Erinnern an das Konzentrationslager Riga-Kaiserwald; ich konnte an Veranstaltungen teilnehmen und so auch an unsere Glaubensschwester Fanny Perlen am Ort ihrer Tötung gedenken. Heute schließt sich für mich mit diesem ,Stolperstein‘ ein Kreis, und er wird für mich gleichzeitig auch zu einem ,Gedenkstein für Fanny Perlen‘.“

Eine Geigenspielerin gestaltete das Gedenken musikalisch mit.

Ein Stück weit dem Vergessen entrissen – Gedenken an Klara Hübner

Die Krankenschwester Klara Hübner war Mitglied der neuapostolischen Gemeinde Stuttgart-Süd. Geboren wurde sie am 9. November 1886 in Lichtenau/Schlesien; wann und warum sie nach Stuttgart kam, ist nicht bekannt. Sie lebte alleine, war ohne Angehörige – ihre Eltern waren früh verstorben, und sie blieb ledig. Offenbar war sie lange arbeitslos, schließlich erhielt sie eine Beschäftigung als Krankenhauspflegerin.

Seit 1936 wohnte Klara Hübner in der Calwer Straße 7b. Ihre Vermieterin berichtete, dass sie verschlossen und ruhig sei. Oft kam sie völlig erschöpft und müde von den schweren Pflegediensten nach Hause, und so habe sie immer den Wunsch nach ein paar freien Tagen gehabt, was aber nicht möglich gewesen sei.

Im Juli 1936 brach Klara Hübner in einem Haus in der Schwabstraße zusammen. Die Ärzte diagnostizierten eine psychische Erkrankung. Im August 1936 wurde sie in die Heilanstalt Zwiefalten eingewiesen. Da sie keine Angehörigen hatte, fragte keiner nach ihr. Und als seitens der Kirche nach ihrem Schicksal gefragt wurde, stand in der Antwort aus Zwiefalten nur, dass Klara Hübner in eine „unbekannte Anstalt abgeholt wurde. Wir haben seither nichts mehr von ihr gehört.“ In ihrer Krankenakte ist ein Foto von ihr abgedruckt; es zeigt sie betend, mit gesenktem Blick und in sich gekehrt.

Nach vier Jahren in Zwiefalten wurde Klara Hübner am 13. August 1940 nach Grafeneck deportiert, wo sie am selben Tag ermordet wurde. In dieser Tötungsanstalt wurden über 10.000 Menschen mit einer Behinderung umgebracht. Körperlich und psychisch Kranke waren gemäß der nationalsozialistischen Rassenideologie „lebensunwert“. Diesen Krankenmorden fielen bis 1945 über 200.000 Menschen zum Opfer.

Im Blick auf das „unsagbare Leiden, den unfassbaren Schmerz“ der Klara Hübner sagte der Apostel, vor Gott sei nichts vergessen. Dazu zitierte er Psalm 56,9 („sammle meine Tränen in deinen Krug; ohne Zweifel, du zählst sie“) und Offenbarung 21,4: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein“: Dann, wenn Gott – wie es im neunten Glaubensartikel bekannt wird – einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen wird.

„Stolpersteine“ im Gedenken an Josefine Glück und Hermann Glück

Die dritte Station des „Stolperstein-Wegs“ bildete das Gedenken an Josefine Glück und ihren Sohn Hermann Glück. Für sie setzte der Künstler „Stolpersteine“ vor dem Haus in der Heusteigstraße 73.

Josefine Glück wurde 1872 in Wien geboren, war ungarische Staatsbürgerin und jüdischer Herkunft. Sie war alleinerziehende Mutter ihres 1901 geborenen Sohnes Hermann. Beide waren Mitglieder der Neuapostolischen Kirche. Josefine Glück wohnte später bei Hermann und seiner Familie in der Heusteigstraße 73. Trotz ihres christlichen Glaubens war Josefine Glück allen diskriminierenden und menschenunwürdigen Maßnahmen, die in der NS-Diktatur gegenüber Juden angewandt wurden, ausgesetzt. Im Jahr 1942 wurde sie zwangsweise in das jüdische Altersheim Herrlingen eingewiesen, wo beengte Verhältnisse mit prekärer Lebensmittelversorgung herrschten, danach in das jüdische Altersheim in Oberstotzingen. Doch das waren nur Zwischenstationen ihres Leidens, denn am 19. August 1942 wurde Josefine Glück zur Sammelstätte in Stuttgart-Killesberg gebracht: Von dort erfolgte am 22. August 1942 ihre Deportation nach Theresienstadt. In diesem Ghetto verstarb sie nach der amtlichen Todeserklärung am 28. März 1943.

Ihr Sohn Hermann Glück, ein geachteter Beamter bei der Industrie- und Handelskammer (IHK), war Seelsorger in der neuapostolischen Gemeinde Stuttgart-Süd. Nach der nationalsozialistischen Rassenterminologie war er „Mischling ersten Grades“. Dies verhinderte seine berufliche Karriere. Die Gestapo verfügte, dass er sich im November 1944 für einen Arbeitseinsatz bei der „Organisation Todt“ stellen musste. Herzkrank, verletzt und völlig geschwächt, kam er im Februar 1945 nach Stuttgart zurück. Jahre lang musste er von seiner Frau gepflegt werden. Und obwohl es ihm danach gesundheitlich besser ging, starb er doch an den Spätfolgen der Haft und Zwangsarbeit.

Bis zu seinem Tod im Jahr 1969 war Hermann Glück erfüllt von tiefem Glauben zu Gott und Dankbarkeit gegenüber seiner Kirche. Am 2. Mai 1945 hatte er geschrieben: „Während der ganzen Jahre [der] nationalsozialistischen Herrschaft hat man mir und meiner Familie sowie noch einem weiteren größeren Personenkreis in gleichen Verhältnissen so viele Liebe, Hilfe, Unterstützung in Geld und Lebensmitteln, Rat und Trost seitens der Mitglieder und führenden Persönlichkeiten der Gemeinde überall im Reich zu teil werden lassen.“

Die Wertschätzung gegenüber Hermann Glück und seiner Arbeit durch die IHK fand auch bei der „Stolperstein“-Verlegung dadurch Ausdruck, dass eine IHK-Vertreterin teilnahm und ein Grußwort sprach.

Solidarität mit jüdischen Mitbürgern

Die „Stolperstein“-Verlegung sei auch ein Zeichen der Solidarität mit den jüdischen Mitbürgern in Stuttgart, die zurzeit antisemitische Aggression erleben müssten, sagte Apostel Loy, der die Gebietskirche im Stuttgarter „Rat der Religionen“ vertritt. In dessen jüngster Erklärung heißt es: „Jüdinnen und Juden müssen in Sicherheit in unserer Stadt leben und auch ihren Glauben sicher und ohne Angst praktizieren können. Wir appellieren an alle Mitglieder unserer Stadtgesellschaft, diese Grundsätze zu achten und gemeinsam mit uns einzufordern.“

Zum Thema „Stolperstein“-Verlegung siehe auch unser Bericht „,Stolperstein‘-Verlegung in Besigheim“. Über „Stolpersteine“ siehe www.stolpersteine-stuttgart.de und www.stolpersteine.eu 

Fotos: Kurt Entenmann

Kontakt

Bitte füllen Sie das Feld aus
Bitte füllen Sie das Feld aus
Bitte füllen Sie das Feld aus

* Pflichtfeld

Nachricht senden

Vielen Dank für Ihre Nachricht!

Wir werden Ihre Anfrage in Kürze bearbeiten und uns bei Ihnen unter den angegebenen Kontaktdaten melden.

Ihr Kommunikationsteam der
Neuapostolischen Kirche Süddeutschland K.d.ö.R.